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Ein durchkreuzter Traum

Wie es dazu kam
Eigentlich wollte ich Grafiker werden. In der Oberstufenschule konnten mir die Lehrpersonen im Gestalten nichts mehr beibringen. Sie befanden, dass ich mir meine Aufträge selbst erteile. So machte ich es auch. Nach der Schulzeit entschied ich mich für die vierjährige Ausbildung zum Dekorationsgestalter (heute Polydesigner 3D). Das Ziel war, nachher prüfungsfrei mit der Kunstgewerbeschule zu starten. Der Plan schien klar. Doch es kam anders.
Schon in den frühen Teenagerjahren suchte ich nach dem Sinn des Lebens. Schließlich fand ich Gottvertrauen, oder es fand mich. Schnell war ich aktiver Mitarbeiter in der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde. Ich engagierte mich im Leitungsteam der Jugendgruppe und wirkte in überregionalen kirchlichen Gremien mit. Ich sang im Kirchenchor, leitete in Konfirmandenlagern mit und baute mit der Kirchgemeinde auf der Alp Wasserleitungen für Bergbauern. Nebenbei spielte ich auch ambitioniert Volleyball, trainierte intensiv und bestritt mit meinem Club die Meisterschaftsspiele.
Mein Pfarrer und Mitglieder der Kirchgemeinde fanden schon in dieser Zeit, ich sollte Pfarrer werden. Doch mein Plan war bekanntlich klar.
Im Alter von 19 Jahren begann ich aus dem Nichts heraus plötzlich zu hinken. Auch meine Arme taten immer weniger, was ich wollte. Schließlich wurde ich zunehmend bettlägerig. In einigen ambulanten und stationären Spitalaufenthalten stellte sich heraus, dass ich an Multipler Sklerose erkrankt war. Welten brachen zusammen! Der junge Glaube kam auf den Prüfstand. Wie sollte ich dies alles mit einem barmherzigen Gott zusammenbringen, der es gut mit meinem Leben meint? Ich hatte viel Zeit, um darüber und über weitere Fragen nachzudenken.
Innerhalb der ersten Jahre musste ich drei schwere Schübe verkraften. Jeweils sechs bis acht Monate lang war ich mehr oder weniger gelähmt und auch sonst massiv reduziert. Zum Beispiel konnte ich pro Tag gerade noch ein bis zwei Sätze lesen. Es waren Verse aus dem biblischen Buch der Psalmen, darum weiß ich das so genau.
Auf diese Zeiten folgten ähnlich lange intensive Aufbauphasen. Jeden Tag schwamm ich ungefähr einen Kilometer im Hallenbad, war Stammgast in der Physiotherapie und quälte mich mit Krafttraining im Stil eines Leistungssportlers. Kaum war ich körperlich wieder einigermaßen beieinander, kam der nächste Schub. Nach den drei Schüben war aber Gott sei Dank fertig mit derart schweren Episoden.
Zunehmend beschäftigte mich vor allem eines: Hatten mein Pfarrer und alle anderen doch recht, sollte ich Theologie studieren und Pfarrer werden?
Der Rest ist zum Teil abenteuerliche, aber mindestens unkonventionelle Geschichte.
Was daraus geworden ist
Heute arbeite ich als vielseitiger Theologe und war bisher unter anderem rund 20 Jahre als Pfarrer und Seelsorger in verschiedenen Kirchen und Organisationen tätig. Weiterhin gehören zahlreiche unsichtbare MS-Symptome zu meinem Leben dazu. Das ist manchmal wirklich mühsam und wird nicht einfacher.
Meine Umstände führten dazu, dass ich die vielen Fragen zu Krankheit, Heilung, Nicht-Heilung, Behinderung, soziale Gerechtigkeit, Ausgrenzung, Inklusion und verwandte Themen bis zur Doktorarbeit und darüber hinaus erforschen wollte und auch habe. Heute referiere ich dazu, leite Kurse und Seminare. Und die Frage, wie Kirchen damit umgehen, wenn ihre Pfarrerin oder ihr Pfarrer mit einer chronischen Krankheit oder einer Beeinträchtigung leben, hat bis heute kaum jemand so tief erforscht, wie ich es tat. Meine Forschungsergebnisse sind darum immer noch gefragt. Und ich hätte Pläne für weitere Forschungsprojekte. Zum Beispiel müsste man meine qualitativ-empirischen Ergebnisse in einer breit angelegten Studie quantitativ überprüfen.
Durch meinen Wissensdurst habe ich einerseits viel persönlich gelernt. Andererseits kann ich Mitmenschen aus meiner eigenen Erfahrung im Umgang mit ihren schwierigen Lebensumständen und Fragen an Gott helfen. Ziel erreicht, sagen einige.
Malen und Zeichnen tue ich immer noch. In den letzten Jahren entstanden einige neue Bilder auf Leinwand. Seit der Corona-Pandemie dichte ich auch. Bisher erschienen drei Gedichtbände. Die Texte illustriere ich mit Ausschnitten aus meinen Bildern und weiteren eigenen Fotos. Genau, fotografieren tue ich auch gerne, musizieren übrigens auch.
Ich würde sagen, meine Geschichte begann nicht mit einem geplatzten Traum. Mein Traum wurde quasi durchkreuzt; und zwar nicht nur rein sachlich von einer blöden Krankheit, sondern von "höchster Stelle". Heute deute ich es für mich persönlich so. Der Gekreuzigte und Auferstandene muss hinter dieser unerwartet anderen Wegführung stecken. Anders kann ich mir das nicht erklären. Und heute bin ich sehr dankbar für diese ganz andere Weichenstellung.
Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, ich hätte gut und gerne ohne MS leben können und wollen. Der Sinn meiner Erkrankung bleibt auch nach viel theologischer Reflexion und Erklärungsversuchen weitgehend ein Geheimnis für mich.
Ich hatte zwar schon vor meiner Erkrankung einen starken Gerechtigkeitssinn. Diesen soll ich von meinem Urgroßvater geerbt haben. Als Gewerkschaftsführer stemmte er sich gegen die Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt. Auch das Verlangen nach einer tiefen Spiritualität wurde bereits vor meiner Erkrankung geweckt.
Ohne die notgedrungene „Denkzeit“ während meiner starken MS-Schüben hätte ich mich aber kaum genug mit den Empfehlungen meines Pfarrers und anderen Mitmenschen auseinandergesetzt. Ohne dieses buchstäbliche "Durch- und Umdenken" wäre ich fast sicher Grafiker geworden. Ob das besser gewesen wäre, lasse ich andere entscheiden.
Ich persönlich würde es so sagen: Wenn es anders kommt, als wir erträumt haben, kann es trotzdem gut oder sogar besser sein. Ich empfinde, dass ich als unkonventioneller Theologe mit reformierten Wurzeln und ökumenischer Offenheit vieles von dem leben kann, was ich mir mehr oder weniger bewusst tief in meinem Innern erträumte. Wenn ich noch von etwas träume, dann vom wirkungsvollen Ausbau der Institutstätigkeit und von einem ständigen Lehrauftrag mit Forschungsanteil zu meinen Schwerpunkten.
Seit meinen ersten MS-Schüben begleitet mich ein Bibeltext, den ich zum Schluss gerne anfüge. Er fasst treffend zusammen, was ich in den vergangenen gut dreissig Jahre durchdacht und erlebt habe. Diese Verse beinhalten die unerwartete Antwort von Gott auf die Bitte des Paulus um persönliche Heilung: "Doch der Herr hat zu mir gesagt: 'Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung''" (2. Korinterbrief 12,9, Neue Genfer Übersetzung, 2013).
Thun, Dr. Oliver Merz, Gründer und Leiter "Institut Inkusiv"
(Leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags am Vortragsabend der Beratungsstelle Sela vom 17. November 2023 in Aarau.)
Foto: © Oliver Merz.
Themenliste
- Ein durchkreuzter Traum
- Inklusion und Friedensförderung im und durch Sport
- "DU für alle"
- "Die Liebe ist die Grenze!"
- Von der Hoffnung – nicht nur für schwere Zeiten
- Bericht zum 2. Tagesseminar zu Inklusion und LGQBTIA+ in der Kirche
- Wie inklusiv sind Kirchen in unserem Land?
- Was ein Baum über Einheit in Vielfalt lehrt
- "Zmitztdrin" – eine Anstiftung zu mehr Inklusion in der Kirche
- Bericht zur Fachtagung "Dazugehören" in Aarau
- 2. Tagesseminar zu Inklusion und LGBTQIA+ in der Kirche
- Diversity Management aus biblischer Perspektive
- Unterstütze Sie uns dabei, Kirchen inklusiver zu machen!
- Frohe Festtage und ein hoffnungsvolles neues Jahr!
- "Ich lasse mich nicht behindern"
- Fachtagung "Dazugehören" – jetzt anmelden!
- "Dazugehören – gemeinsam für eine inklusive Kirche und Gesellschaft"
- Ab in die Sommerpause
- "Zmitztdrin" – Lehrmittel mit Dokumentarfilm zu Inklusion in der Kirche
- Für Inklusion sensibilisieren
- Inklusive Veranstaltungen durchführen
- Rückblick auf das Tagesseminar "Inklusion und LGBTIQ* in der Kirche"
- Dazugehören – mit Kopf und Herz für eine inklusivere Welt
- 1. Treffen des Beirats
- Tagesseminar Inklusion und LGBTIQ* in der Kirche
- "Von der Ausgrenzung zur Umarmung"
- 1 Jahr Institut Inklusiv
- Gegenseitige Rücksichtnahme und gemeinsames Feiern als Förderfaktoren von Inklusion und Teilhabe
- Inklusion und Gender
- Paulus – Cheftheologe und Apostel mit Behinderung
- Ein Sommergruss
- Lyrische Inklusion
- "Inklusiv für alle – wirklich?"
- Inklusion in Theologie und Kirche
- Barrieren und Förderfaktoren von Inklusion
- Konferenz "Versöhnt leben" 2022
- Inklusion ist keine Option
- Institutsgründung