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"Die Liebe ist die Grenze!"

Vom Umgang mit Grenzen bei der Inklusion (Angedacht zum Weiterdenken)


Die Grundanliegen von Inklusion sind in der Bibel und christlichen Tradition tief verankert. Dass es bei Inklusion um Beziehung und ein gleichwertiges Miteinander geht, lässt uns schon die Dreieinigkeit Gottes erahnen. Gott Vater/Mutter, Sohn und Heilige Geistkraft sind in sich selbst eins und zugleich verschieden. Die drei Seinsweisen von Gott grenzen sich selbst zudem nicht aus (Liedke 2013, 34).

Das ist quasi Programm für uns Menschen. Auch wir Menschen werden in der Bibel und christlichen Tradition nicht nur als einzigartige und eigenständige Wesen mit unantastbarer Würde beschrieben. Wir sind zugleich auf Beziehung, auf Gemeinschaft mit anderen hin angelegt. Wir brauchen die gegenseitige Ergänzung!

Schon Jesus hat gezeigt, dass in der Gemeinschaft der Gläubigen alle gleichwertig dazugehören dürfen, gerade diejenigen, die besonders verletzlich und benachteiligt sind. Die Vielfalt und Verschiedenheit forderten allerdings schon das Miteinander der ersten Christen heraus. Die Bibel berichtet ganz offen darüber.

Bei der Inklusion werden wir zugegeben an große praktische Herausforderungen und gar Grenzen stoßen. Da darf man sich keine Illusionen machen. Weshalb wird aber gerade in den Diskussionen zu inklusiver Kirche häufig sehr schnell darüber geredet, dass Inklusion Grenzen habe beziehungsweise sogar haben müsse? Will man sich vor dem befürchteten "unverhältnismäßigen“ Aufwand oder der persönlichen Überforderung schützen? Oder verbirgt sich hinter diesem Mechanismus die unterschwellige Angst, dass plötzlich alle zu inkludieren seien, uferlos und vor allem ohne jegliche ethische Grenzsicherung? Beides erschiene als Begründung zu „billig“. Selbstverständlich darf Inklusion nicht zum Preis eines notwendigen individuellen und gemeinschaftlichen Schutzraums erzwungen werden. Natürlich ist die Selbstfürsorge aller Beteiligten ein wichtiges Thema, auch zu Inklusion. Und vermutlich werden wir bei der praktischen Umsetzung von Inklusion auch an finanzielle Grenzen kommen.

Inklusion bedeutet nicht Willkür, sondern bedingt gegenseitigen Respekt und Verständnis sowie die Anerkennung und Einhaltung sinnvoller Regeln und unüberwindbarer Grenzen. Grenzen sind spätestens dort erreicht, wo jemand seine Freiheit zum Nachteil und Schaden seines Nächsten ausnützt. Wenn Grenzen helfen, Menschen vor Grenzverletzungen zu schützen, sind sie durchaus legitim.

Ethische, finanzielle und andere Grenzziehungen dürfen aber kein vorschnell vorgeschobener Riegel sein. Beispielsweise ist Unwille zu nötiger Reflexion von Benachteiligungs- und Ausgrenzungsmechanismen, die die Inklusion von Einzelpersonen und Gruppen per se erschweren oder verhindern, ist nicht zu verantworten und und läuft dem Evangelium konsequent zuwider.

Was könnte uns da den (Aus-)Weg weisen? Wir wissen heute beispielsweise, dass unterschiedliche Grenzen im Zusammenleben überwunden oder schlechtestenfalls besser akzeptiert und ausgehalten werden können, wenn Menschen sich gegenseitig kennen und wertschätzen. Neue Studien belegen, dass Kontakte, Bekanntschaften oder sogar Freundschaften wichtig sind, „um negative Vorbehalte zwischen Gruppen abzubauen“ (Samochowiec & Bauer 2024, 5).

Inklusion motiviert sowohl die christliche Gemeinschaft als auch die Gesellschaft zu den drei „B“:

  • Begegnung
  • Beziehung
  • Beteiligung

Finden Menschen den Raum, um einander zu begegnen und miteinander in Beziehung zu kommen, ihre Geschichten, Bedürfnisse, Möglichkeiten und Grenzen kennenzulernen und sich wertzuschätzen, wollen sie eher miteinander Gemeinschaft haben und die gegenseitige Bereicherung suchen. „Beteiligungskirche“ sagen dem die einen im christlichen Milieu. 

Inklusion ist heute nicht nur menschenrechtlich verankert, sondern auch theologisch gut begründet. Damit ist sie in Kirche und Gesellschaft grundsätzlich keine Option. Nur mechanisch umgesetzt, weil gesetzlich und sogar christlich gefordert, ist Inklusion aber nicht genug. Was meine ich damit? Ich sage es mit John Swinton, einem schottischen Theologieprofessor: „Inklusion ist nicht genug, du musst dazugehören. Um dazuzugehören, musst du vermisst werden“ (2013, 8). Es geht letztlich um Zugehörigkeit, und diese drückt sich in wertschätzenden Beziehungen und freundschaftlicher Verbundenheit aus.

Für Freunde investiert man sich gerne! Freundschaftliche Liebe, die von der Zuwendung von Gott zu uns Menschen motiviert ist, überwindet so manche Grenzen, weil dann viel unbedingter Wille zur Gemeinschaft vorhanden ist. Wo man uns mag und wir anderen fehlen, gehören wir zweifellos dazu. Darum ist dort meistens die Bereitschaft zu finden, um Lösungen zu suchen und miteinander zusammen zu sein. Gottes Liebe ist grenzenlos, die unsere ist es aber nicht. Das bedeutet bei aller freundschaftlichen Liebe unter uns Menschen, dass es persönliche Grenzen zu respektieren gilt.

Die Liebe Gottes und diejenige zum Nächsten ist also die Grenze! Und dieselbe weitet und überwindet viele Begrenzungen, mindestens von Menschen gemachte. Stoßen wir bei der Inklusion trotzdem an scheinbar unüberwindbare Hindernisse, halten wir sie gemeinsam besser aus – bis zur nächsten kreativen Idee, um nochmals einen Anlauf zu deren Verschiebung oder sogar Überwindung zu wagen. Nicht kopflos, aber verheißungsorientiert. Gott leidet mit an den Grenzen, die wir in dieser irdischen Realität noch nicht beseitigen können. Gott steht ebenfalls auf unserer Seite, wenn wir trotzdem unser Möglichstes für inklusivere Gemeinschaften tun.

Weihnachten erinnert uns daran, dass Gott selbst aus Liebe die Grenze überwand und in Jesus Mensch wurde, sich selbst leibhaftig inkludierte. Als Einladung weiterzudenken, schließe ich mit einem bekannten Jesuswort aus dem Johannesevangelium: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe; das ist mein Gebot. Niemand liebt seine Freunde mehr als der, der sein Leben für sie hergibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich nenne euch Freunde und nicht mehr Diener. Denn ein Diener weiß nicht, was sein Herr tut; ich aber habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. (...) Einander zu lieben – das ist das Gebot, das ich euch gebe“ (Johannesevangelium 15,12-15.17).

Zur Vertiefung eignet sich zum Beispiel das Buch von Hans Reinders, 2008, Receiving the Gift of Friendship: Profound Disability, Theological Anthropology, and Ethics, Grand Rapids: Eerdmans. Weiter empfehle ich den Beitrag von Ralph Kunz, Die Grenzen der Inklusion – und die Inklusion der Grenzen im SEA Fokus zum Thema Inklusion – Einladende Gemeinschaft mit Menschen mit Behinderung, 2024, 14-15. Die ganze Publikation ist im Internet abrufbar.

 

Quellen:

Liedke, Ulf 2013. Inklusion in theologischer Perspektive, in Liedke, Ulf & Kunz, Ralph (Hg.) 2013. Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 31-52.

Neues Testament Psalmen: Neue Genfer Übersetzung. 3. Auflage 2013. Romanel-sur-Lausanne, Schweiz: Genfer Bibelgesellschaft; Deutsche Bibelgesellschaft.

Samochowiec, Jakob & Bauer, Johannes 2024. Gemeinsam verschieden? Die große Schweizer Vielfaltsstudie, Rüschlikon/Zürich: GDI Gottlieb Duttweiler Institut, abrufbar im Internet.

Swinton, John 2013. What makes a parish inclusive. Vorlesungsmanuskript zur Gastvorlesung im Rahmen der Buchvernissage zum Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde vom 2. Mai 2013 im Haus der Gemeindedienste, Zürich. Übersetzt aus dem Englischen: Oliver Merz.

 

Foto: © Oliver Merz.

 

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