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Solidarische und inklusive lokale Gemeinschaften – was bedeutet das?
Vorbemerkungen
Vom 3.–4. März 2025 wurde Dr. Oliver Merz, Leiter "Institut Inklusiv", an den 10th European Congress of Local Governments (10. Europäischer Kongress der Kommunalverwaltungen) nach Mikolajki (Polen) eingeladen. Er nahm als Redner an der Podiumsdiskussion teil zum Thema "Solidary and Inclusive Local Governments – What Does It Mean?" (Solidarische und inklusive Kommunalverwaltungen – was bedeutet das?). Konferenzwebsite
Dieser Beitrag fasst die wichtigsten Impulse von Oliver Merz in der besagten Podiumsdiskussion zusammen. Sie sind punktuell mit weiteren Gedanken aus den Vorbereitungsnotizen des Autors für die Konferenz angereichert.
1. Thema der Panel Diskussion
"Solidarische und inklusive lokale Gemeinschaften – was bedeutet das?"
Bei der Förderung der Idee einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft spielt die Umsetzung des Konzepts der Solidarität und Inklusivität in Kommunalverwaltungen – den sogenannten kleinen Heimatländern – eine Schlüsselrolle. Dies gilt für die Berücksichtigung verschiedener demografischer Gruppen im gesellschaftlichen Leben, insbesondere junger Menschen, Senioren, Familien und Gemeinschaften, die von Ausgrenzung bedroht sind. Solidarität in der Kommunalverwaltung bedeutet die Verpflichtung, sicherzustellen, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft, unabhängig von Alter, Herkunft oder sozialem Status, gleiche Chancen und Unterstützung hat. Auf welchem Stand sind die europäischen Kommunalverwaltungen heute mit ihrer inklusiven Politik?[1]
2. Welche wirksamen Strategien für die Umsetzung inklusiver Maßnahmen in Kommunalverwaltungen sind aus der Forschung bekannt?
Schon im 11. Ziel für nachhaltige Entwicklung aus der Agenda 2030 der Vereinten Nationen stehen inklusive Gemeinschaften im Mittelpunkt: "Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen."[2] Einige Städte und Dörfer in Europa geben heute bereits ein Beispiel dafür ab, wie inklusive Gemeinschaften aussehen können.
Hauptstrategien, Förderfaktoren und Maßnahmen aus der Forschung klingen einfach, sind aber sehr wirksam. Allem voran sind eine einladende Atmosphäre und eine inklusive Kultur der effektivste Weg für Menschen, Zugang zu Gemeinschaften aller Art zu finden. Manche gehen sogar noch weiter und sagen, dass eine Kultur der Solidarität und Inklusion die eigentliche Vision ist. Dem stimme ich grundsätzlich zu! Ich würde mindestens sagen, dass Solidarität und Inklusion sowohl eine Grundlage als auch eine Vision sind.
Das klingt trivial, ist aber in den meisten europäischen Gesellschaften eine große Herausforderung. Wir werden wahrscheinlich nie eine vollständig inklusive Gemeinschaft erreichen. Dies wäre utopisch. Inklusion ist ein Weg, dabei müssen inklusive lokale Gemeinschaften aber das Leitziel sein und bleiben.
Wir können nicht warten, bis wir eine solidarische und inklusive Kultur in unseren Städten und Dörfern etabliert haben, bevor wir handeln. Wo sollten wir ansetzen? Wir müssen das Bewusstsein für solidarische und inklusive Gemeinschaften schärfen – auf allen Ebenen der Gesellschaft. Eine Haltung der Solidarität und inklusive Überzeugungen sind die wichtigsten Faktoren, um auf dieses Ziel hin unterwegs zu sein. Es geht um einen Systemwechsel. Und der beginnt oft in unseren Köpfen und Herzen.
Zu den häufigsten Herausforderungen gehören Vorbehalte und Vorurteile gegenüber bestimmten Personen und Gruppen, gefolgt von mangelnder Empathie und Sensibilität für fremde Umgebungen und unkonventionelle Lebensbedingungen. Wir wissen, dass Begegnungen, Beziehungen oder sogar Freundschaften mit marginalisierten Einzelpersonen und Gruppen das Bewusstsein schärfen und neue Haltungen und Überzeugungen bilden können. In diesem Sinne brauchen wir Gelegenheiten für Begegnungen und Teilhabe beziehungsweise umfassende Partizipation.
Ich bin diesbezüglich sehr besorgt über das, was derzeit in Europa geschieht. Viele unserer Gesellschaften sind dabei, sich zu polarisieren und zu fragmentieren. Wir haben viele Subkulturen. Das macht es für viele Menschen schwierig, sich zu treffen, kennenzulernen und zu verstehen. Bürgerinnen und Bürger sind sich der Situation von Menschen und Gruppen am Rande der Gesellschaft kaum oder gar nicht bewusst. Doch genau das ist notwendig, um mehr Solidarität zu leben und Inklusion und Partizipation zu ermöglichen. Die Tatsache, dass Menschen in unseren modernen europäischen Gesellschaften diskriminiert und ausgegrenzt werden, muss uns beschäftigen und fordert zur Reflexion auf.
Bauliche und technische Barrieren müssen beseitigt werden. Rampen für Menschen im Rollstuhl oder mit Rollatoren und Kinderwagen sollten die Norm sein. Auch die Zugänglichkeit der lokalen Verwaltungsdienste ist von großer Bedeutung. Dazu gehören auch barrierefreie Websites mit zugänglichen digitalen Dienstleistungen (Formulare und dergleichen). Die Digitalisierung und das Konzept der Smart Cities können hier bei der Planung und Umsetzung helfen.
Immer mehr wichtige Informationen für Abstimmungen, Wahlen und dergleichen werden in einfacher oder leichter Sprache angeboten. Das ist gut und auch notwendig! Insgesamt ist es wichtig, dass öffentliche Dienstleistungen und politische Prozesse so barrierefrei wie möglich sind. Wenn die Dienstleistungen nicht umfassend barrierefrei sind, können sie beispielsweise für Menschen mit Behinderungserfahrung wenig nützlich sein.
Letztendlich geht es in unseren lokalen Gemeinschaften darum, dass Menschen dazugehören dürfen. Dafür müssen sie auch möglichst umfassend über ihre Geschicke mitbestimmen können. Dies kann zum Beispiel durch Begegnungszonen, Stadtfeste, Bewohnerbeiräte (Senioren, Menschen mit Behinderungserfahrung und weitere), partizipative Prozesse für die Stadtentwicklung und mehr geschehen.
Auch eine auf Solidarität und Inklusion basierende Gemeinschaft wird bei ihrer praktischen Umsetzung wahrscheinlich an Grenzen stoßen. Solidarität und Inklusion fordern uns jedoch heraus, es uns nicht zu einfach zu machen. Grenzen sind sicherlich erreicht, wenn jemand seine Freiheit zum Nachteil und Schaden des Nächsten nutzt. Wenn Grenzen dazu beitragen, Menschen vor Grenzverletzungen zu schützen, sind sie legitim.
In Gemeinschaften, in denen viel Wille für Miteinander und Beteiligung vorhanden ist, findet man oft Wege, um Barrieren zu beseitigen und Hindernisse zu überwinden. Dies erfordert in der Regel ein hohes Maß an Flexibilität, Kreativität und oft auch Mut, Risiken einzugehen und etwas auszuprobieren. Ich sage jeweils: "Liebe ist die Grenze!"
Solidarität und Inklusion bedürfen der Regulierung. Zum Beispiel müssen die Menschen vor dem Missbrauch der Solidarität durch andere geschützt werden. Mit Gesetzen und Regeln allein werden wir inklusive Gemeinschaften allerdings nicht erreichen können. Die Prozesse werden am besten von oben nach untengefördert, lokale und regionale Regierungen werden dringend gebraucht!
Wichtige Fortschritte auf lokaler und regionaler Ebene werden heute zu oft durch Parteiinteressen und politische Profilierung gebremst oder verhindert. Das beunruhigt mich! Bürgermeister:innen, Politiker:innen, Mitglieder von Kommunalverwaltungen, Sie sind persönlich gefragt! Sie haben die Macht, Prozesse zu initiieren und mit gutem Beispiel voranzugehen. Ihr Engagement für ein solidarisches Gemeinwesen und ihr authentisches Handeln sind gefragt, um die Bürgerinnen und Bürger zu ermutigen, es ihnen gleichzutun.
Als Theologe würde ich die Strategien aus der bisherigen Forschung anhand eines Verses aus der Bibel zusammenfassen: "Suchet das Beste für eure Gemeinden, eure Städte und Dörfer (Jeremia 29,7)!"
3. Wie unterstützt das Institut Inklusiv Kommunalverwaltungen bei der Schaffung offener und vielfältiger Gemeinschaften?
Als Gründer und Leiterin des Instituts gehöre ich auch zu den Betroffenen, die in die lokale Gemeinschaft einbezogen werden wollen. Ich lebe seit 35 Jahren mit Multipler Sklerose. Deshalb bringe ich und andere am Institut neben dem fachlichen Wissen auch ein hohes Maß an persönlicher Sensibilität für Solidarität und Inklusion in unsere Arbeit ein. Entsprechend nutzen wir unser vertieftes Fachwissen und breites Netzwerk, um solidarische und inklusive Gemeinschaften in unterschiedlichen lokalen Kontexten und für diverse Zielgruppen zu fördern. So helfen wir zum Beispiel, die lokale Situation durch Grundlagenforschung zu analysieren. Dies ermöglicht uns, sehr gezielte Handlungsstrategien zu entwickeln.
Das Institut beteiligt sich weiter an Projekten zur Bewusstseinsbildung und bietet Schulungen für Politiker und andere Personen mit öffentlicher Verantwortung an. Wir helfen auch bei der Einbeziehung von Einzelpersonen und Gruppen in lokale Gemeinschaften. Das Institut unterstützt ebenfalls bei der Planung und Durchführung von inklusiven Veranstaltungen und Projekten.
Politiker:innen, Mitglieder von Kommunalverwaltungen und andere Schlüsselpersonen, die sich für ein solidarisches und inklusives Gemeinwesen einsetzen, stehen oft unter großem öffentlichen Druck und müssen komplexe Entscheidungen treffen und dabei persönliche Werte und politische Ziele miteinander in Einklang bringen. Das ist eine Herausforderung! Wir inspirieren und beraten sie. Außerdem binden wir einige von ihnen in die Aktivitäten des Instituts ein (Veröffentlichungen, Veranstaltungen, Beirat des Instituts usw.). Dadurch werden sie sensibilisiert, erhalten Zugang zu Instrumenten (Inklusionskonzepte, Checklisten und dergleichen) und erweitern ihr Wissen und ihr Netzwerk.
Schließlich engagiert sich das Institut Inklusiv gemeinsam mit verschiedenen Akteuren in Bürgerinitiativen für mehr Solidarität und Inklusion auf lokaler Ebene.
Zum Schluss
Wir brauchen mehr denn je ein geeintes Europa! Wir dürfen nicht zulassen, dass wir gespalten werden! In Anlehnung an John Swinton, einen schottischen Theologieprofessor: Solidarität und Inklusion sind keine Option und trotzdem nicht genug. Wir müssen dazugehören dürfen – mit allen Rechten und Pflichten!
Trotz aller Herausforderungen werde ich nicht aufhören, von lokalen Gemeinschaften zu träumen, in denen dies mindestens zu einem großen Teil möglich ist. Ein umfassend solidarisches und inklusives Europa ist wahrscheinlich ein Traum. Aber es ist zumindest ein guter Traum und einer, der unsere Anstrengungen wert ist.
Träumen und handeln Sie mit mir?
Bemerkung: Dr. Oliver Merz wurde vom 2.–4. September 2025 auch ans 34th Economic Forum in Karpacz (Polen) eingeladen. Dabei handelt es sich um die größte Wirtschaftskonferenz Mittel- und Osteuropas, die jährlich hochrangige Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenbringt. Die Veranstaltung bietet eine Plattform für den Austausch von Ideen, die Förderung von Investitionen und die Entwicklung von Strategien für nachhaltiges Wachstum. Das Forum trägt dazu bei, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stärken und innovative Lösungen für aktuelle Probleme zu finden. Oliver Merz beteiligt sich an der Podiumsdiskussion zum Thema "Säkularisierung Europas – eine Frage nach den Konsequenzen" (Secularization of Europe – a Question about the Consequences) Konferenzwebsite
Quellen
Die Ausführungen unter 2. basieren vor allem auf folgenden Studien:
Merz, Oliver 2017. Vielfalt in der Kirche: Der schwere Weg der Inklusion von Menschen mit Behinderung im Pfarrberuf. Interdisziplinäre und theologische Studien. Bd. 1. Berlin, Münster, Wien, Zürich & London: LIT. Dies ist die Buchpublikation zur Doktorarbeit von Oliver Merz. Ausschreibung im Internet: https://lit-verlag.de/isbn/978-3-643-80251-4/ [Stand: 16.06.2025].
Samochowiec, Jakob & Bauer, Johannes 2024. Gemeinsam verschieden? Die große Schweizer Vielfaltsstudie, Rüschlikon/Zürich: GDI Gottlieb Duttweiler Institut, abrufbar im Internet: https://gdi.ch/publikationen/studien/gemeinsam-verschieden?#attr= [Stand: 16.06.2025].
Sozialwerk der Heilsarmee Schweiz 2018. Dazugehören – Dokumentation einer empirischen Erhebung an ausgewählten Standorten und Korps in der Schweiz. Die Forschungsleitung lag bei Oliver Merz. Summary des Schlussberichts Abrufbar im Internet: https://info.heilsarmee.ch/content/dazugehören-–-die-heilsarmee-fördert-inklusion-und-teilhabe-0 [Stand: 16.06.2025].
Zur Person
Oliver Merz (1971) ist Theologe und promovierte 2015 in Praktischer Theologie an der Universität von Südafrika (UNISA) in Pretoria. Er ist Gründer und Leiter des «Institut Inklusiv» (www.institutinklusiv.ch). Zudem wirkt er als Gastdozent, Referent, Berater, Supervisor, Gutachter und Autor. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Diversity (Vielfalt und Verschiedenheit), Inklusion und Teilhabe in Kirche und Gesellschaft sowie Religion, Spiritualität und Gesundheit beziehungsweise Krankheit und Beeinträchtigung/Behinderung. Oliver Merz wohnt mit seiner Familie in Thun (Schweiz). Persönliche Website: www.oliver-merz.ch.
Endnoten
[1] "Solidary and Inclusive Local Governments – What Does It Mean?"
In promoting the idea of a sustainable and just society, implementing the concept of solidarity and inclusiveness in local governments - the so-called small homelands - plays a key role. This applies to taking into account various demographic groups in social life, especially young people, seniors, families and communities at risk of exclusion. Solidarity in local government means a commitment to ensuring that every member of the community, regardless of age, origin or social status, has equal opportunities and support. At what stage are European local governments today with their inclusive policies?
[2] Vergleiche zum Beispiel: https://www.agenda-2030.eda.admin.ch/de/sdg-11-nachhaltige-staedte-und-gemeinden [Stand: 16.06.2025].
Foto: Miniaturwelt "Smilestones", © Oliver Merz.
Themenliste
- Solidarische und inklusive lokale Gemeinschaften – was bedeutet das?
- 3. Tagesseminar zu Inklusion von queeren Menschen in der Kirche
- Gleichwertig, aber nicht gleichartig – Grundsatz fürs Zusammenleben und Zusammenarbeiten
- Die Zeit ist reif!
- Ein durchkreuzter Traum
- Inklusion und Friedensförderung im und durch Sport
- "DU für alle"
- "Die Liebe ist die Grenze!"
- Von der Hoffnung – nicht nur für schwere Zeiten
- Bericht zum 2. Tagesseminar zu Inklusion und LGQBTIA+ in der Kirche
- Wie inklusiv sind Kirchen in unserem Land?
- Was ein Baum über Einheit in Vielfalt lehrt
- "Zmitztdrin" – eine Anstiftung zu mehr Inklusion in der Kirche
- Bericht zur Fachtagung "Dazugehören" in Aarau
- 2. Tagesseminar zu Inklusion und LGBTQIA+ in der Kirche
- Diversity Management aus biblischer Perspektive
- Unterstützen Sie uns dabei, Kirchen inklusiver zu machen!
- Frohe Festtage und ein hoffnungsvolles neues Jahr!
- "Ich lasse mich nicht behindern"
- Fachtagung "Dazugehören" – jetzt anmelden!
- "Dazugehören – gemeinsam für eine inklusive Kirche und Gesellschaft"
- Ab in die Sommerpause
- "Zmitztdrin" – Lehrmittel mit Dokumentarfilm zu Inklusion in der Kirche
- Für Inklusion sensibilisieren
- Inklusive Veranstaltungen durchführen
- Rückblick auf das Tagesseminar "Inklusion und LGBTIQ* in der Kirche"
- Dazugehören – mit Kopf und Herz für eine inklusivere Welt
- 1. Treffen des Beirats
- Tagesseminar Inklusion und LGBTIQ* in der Kirche
- "Von der Ausgrenzung zur Umarmung"
- 1 Jahr Institut Inklusiv
- Gegenseitige Rücksichtnahme und gemeinsames Feiern als Förderfaktoren von Inklusion und Teilhabe
- Inklusion und Gender
- Paulus – Cheftheologe und Apostel mit Behinderung
- Ein Sommergruss
- Lyrische Inklusion
- "Inklusiv für alle – wirklich?"
- Inklusion in Theologie und Kirche
- Barrieren und Förderfaktoren von Inklusion
- Konferenz "Versöhnt leben" 2022
- Inklusion ist keine Option
- Institutsgründung